Die erste Theateraufführung seit Corona lässt die Zuschauer dank schlechter Witterungsbedingungen 24 Stunden länger auf den geöffneten Vorhang warten. Und danach weiter warten. Und warten. Auf der Bühne sitzt Peer, spielt und lässt sich sichtlich Zeit dabei. Das allein stellt schon eine schauspielerische Leistung dar, mit einer Inbrunst und Ruhe auf der Bühne zu sitzen, alle Augen auf das Nichtstun gerichtet. Ausnahmslos alle SchülerInnen des DS-Kurses aus Jahrgang 11 fallen durch einwandfreie Darstellung auf, die den Zuschauer zunehmend in den Bann zieht und auf die Reise mitnimmt, sei es durch passende Mimik oder Intonation, auf der Bühne oder mitten im Publikum.
„Peer Gynt – Eine Bearbeitung“ – nimmt die Handlung von Ibsens Drama nur in Teilen auf, der Jahrgang hat eine moderne und zum Nachdenken anregende Inszenierung erarbeitet, die den Fokus auf die Psychologie des Protagonisten legt. Was gleichgeblieben ist, ist ein lügender Peer. Nein, eigentlich viele lügende Peers. „Jeder ist Peer Gynt. Auch DU bist Peer Gynt“, so lautet der fingerzeigende Vorwurf an das Publikum. Peer Gynt: Ein neues Synonym für „Lügner“?
Wie um diese These zu bekräftigen, nimmt auch Lehrkraft S. Seith eine Rolle, natürlich als Peer, im Stück ein. Unbestritten ist jeder einzelne Peer des 11. Jahrgangs ein dramatisierender Geschichtenerzähler: Höher, besser, weiter, so lautet das Motto. „Das glaubst du nicht!“ und „Das könnt ihr euch nicht vorstellen!“ prahlt es unentwegt. Eine Begebenheit toller als die andere. Einfach magisch. Und ein Hilferuf.
Die psychischen Mechanismen, die beim Narzissten Peer Gynt einsetzen, um bei Überforderung und psychischen Problemen nicht abzustürzen, sind komplex. Die Lösung scheinbar einfach: Die Flucht in irreale Welten, in denen er ein Gewinner, ein König ist. Das niedere Fußvolk ist stets zu Diensten, die Scheinwerfer sind immerzu auf ihn gerichtet: Umjubelt, gefeiert, geliebt. Ein Leben zwischen Geltungssucht und zermürbender Unsicherheit, das notwendigerweise zur Spaltung der Persönlichkeit führen muss. Peer hat viele Gesichter; viele Gesichter sind Peer.
Dazwischen mogelt sich – zunächst kaum hörbar, dann immer lauter werdend – Peers Angst vor und sein Wunsch nach Existenz ins Spiel. Ob er überhaupt existiert? Wenn man sterben kann, muss man doch gelebt haben? Den Tod der Mutter als traumatisch erlebend wird Peer zurückgeworfen an den Lebensanfang mit Fragen, die vom Stück losgelöst in der Atmosphäre hängenbleiben: „Hat unsere Reise ein Ziel? Gibt es einen Punkt, an dem wir angekommen sein werden? Oder fahren wir im Kreis?“
Man mag eine Kritik am Sozialleben der Moderne herauslesen. Zumindest bemerkt man bei der dutzendsten Erzählung von Peer, Peer und Peer allmählich eine eigene Überdrüssigkeit der Superlative. Wenn jeder täglich auf einem Einhorn reitet, verliert das Besondere seine Besonderheit. Und auch wenn für zahlreiche bekannte Internetberühmtheiten dieser Traum wahrgeworden scheint, sollte man sich immer bewusst machen, dass dieser Schein trügen kann. Was von dem, was wir sehen und hören, ist mehr Schein als Sein? Eines haben sie Peer voraus: Heutzutage sind Fantasiewelten nicht mehr auf den Kopf beschränkt, sie können mittels verschiedener medialer Plattformen greifbare Realität werden. Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Gedankenkonstrukt verschwimmt zunehmend, sodass das Ende der Inszenierung in neuem Licht erscheint: Peer Gynt kann nicht sterben.
DUB (21.12.22)